Im Deutschunterricht haben wir einen Text aus dem Genre der Holocaustliteratur gelesen, genauer gesagt Erinnerungstexte über den Holocaust. Ich habe Primo Levis Buch «Ist das ein Mensch?» aus dem Jahr 1947 gelesen, in dem er seine persönlichen Erfahrungen im Konzentrationslager Auschwitz III, einem Arbeitslager des deutschen Chemiekonzerns Buna, schildert. Im Rahmen der Diskussion dieser Texte haben wir auch darüber gesprochen, dass wir diese Texte nicht mit dem gleichen Wahrheitsanspruch lesen sollten wie einen Sachtext, da Erinnerungstexte ganz auf dem Erinnerungspotential der Autoren beruhen, das anfällig für Gedächtnistäuschungen ist. Warum dies aber kein Grund ist, ihnen weniger Legitimität oder Vertrauen zu schenken, und warum es jetzt und in Zukunft umso wichtiger ist, solche Texte zu lesen, werde ich in diesem Blog erläutern.
Das Problem beim Erinnern ist, dass man sich nicht auf sein Gedächtnis verlassen kann. Erinnerungen können sehr schnell von Gedächtnistäuschungen überlagert werden, wie dem False-Memory-Effekt, bei dem man sich an etwas erinnert, was eigentlich nie passiert ist, oder dem Konfabulationseffekt, bei dem man Lücken in der Erinnerung mit plausiblen Teilen füllt, die aber nicht unbedingt so waren. Besonders wenn man unter starkem Stress stand oder wenn die Erinnerungen traumatische Inhalte enthalten, was bei Primo Levi fast alle Erinnerungen in seinem Text waren, kann es zu Verzerrungen der Erinnerungen kommen. Dies geschieht, weil das Gehirn versucht, die Erinnerungen zu ordnen und zu verstehen. Oft haben die Überlebenden des Holocaust im ersten Moment selbst nicht verstanden, was passiert ist, denn das Leid und das Grauen, das ihnen angetan wurde, geschah ohne Grund. Sie wurden von der SS unmenschlich behandelt, ohne zu wissen warum. Um in all dem Chaos und Leid einen Sinn zu finden, versucht das Gehirn die Lücken zu füllen und die vorhandenen Erinnerungen so anzupassen, dass sie im Grossen und Ganzen einen gewissen Sinn ergeben.
Ein weiterer Faktor, warum man in den Erinnerungen von Holocaustüberlebenden viele Erinnerungslücken finden kann, ist, dass viele Überlebende ein gewisses Schuldgefühl mit sich herumtragen. Sie fragen sich, warum sie überlebt haben und warum andere Menschen gestorben sind. Oft fragen sie sich, warum ihr Leben wertvoller war und warum sie aus den Konzentrationslagern gerettet wurden, während die meisten anderen dort ermordet wurden. Und sie versuchen, diese Fragen zu beantworten, indem sie sich aus ihren Erinnerungen eine für sie plausible Antwort zusammenbasteln.
Heisst das nun, dass man die Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden anzweifeln und ihnen nicht trauen sollte? Nein, ganz im Gegenteil, man sollte solche Texte lesen, ohne den Anspruch, mehr Fakten über den Holocaust zu erfahren, aber mit dem Anspruch, mehr über die Psyche der Menschen und die verschiedenen Arten, mit Traumata umzugehen, zu lernen. Ausserdem ist es meiner Meinung nach sehr wichtig, Erinnerungstexte wie die von Primo Levi zu lesen, da langsam aber sicher alle Überlebenden des Holocaust sterben und somit unser einziger Zugang zu Augenzeugenberichten verschwindet. Was bleibt, sind die zahlreichen Berichte, Erinnerungstexte und andere Medien, die von Holocaust-Überlebenden geschaffen wurden, um der Menschheit die Gräuel des Nazi-Regimes vor Augen zu führen. Mit diesen Texten verewigten die Überlebenden ihre Erinnerungen und sie sollten für immer als Warnung dienen.
Warum das Genre der Holocaust-Literatur gerade heute von grösster Bedeutung sein sollte, liegt daran, dass in den letzten Jahren ein dramatischer Anstieg von Antisemitismus und antisemitisch motivierten Straftaten zu verzeichnen ist. Mit dem rasanten Anstieg der Nutzung sozialer Medien wie TikTok, Instagram und YouTube haben antisemitische Verschwörungstheorien wie die von einer elitären jüdischen Weltherrschaft oder die von der Shoah als jüdischer Lüge einen enormen Aufschwung genommen. Zudem ist seit dem Terroranschlag der Hamas auf jüdische Zivilisten am 07. Oktober 2023 ein enormer Anstieg antisemitischer Gewalttaten zu verzeichnen. All dies deutet darauf hin, dass der Holocaust immer mehr in Vergessenheit gerät und die Aufklärung der Weltbevölkerung über die Shoah dringend vorangetrieben werden muss, um den wachsenden antisemitischen Tendenzen entgegenwirken zu können. Dabei sollten Erinnerungstexte wie der von Primo Levi eine zentrale Rolle spielen, da sie einen Einblick in die Schrecken der NS-Zeit und des Holocaust geben können.
Erinnerungstexte wie «Ist das ein Mensch» von Primo Levi gewinnen zunehmend an Bedeutung. Da der Holocaust im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung immer mehr in Vergessenheit gerät und der Antisemitismus weltweit zunimmt, wird die Lektüre dieser Texte immer wichtiger. Es ist jedoch wichtig, sich bei der Lektüre bewusst zu sein, dass diese Texte keinen Anspruch auf vollständige faktische Richtigkeit erheben. Vielmehr stellen sie die Verarbeitung der Traumata dar, die durch den Holocaust verursacht wurden.